Landesbehindertenbeauftragte Michaela Pries: "Die Liste an Barrieren ist lang"
Am 5. Mai ist Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen – diesmal unter dem Motto „Neustart Inklusion“. Ob Schleswig-Holstein diesen Neustart braucht, haben wir mit der Landesbehindertenbeauftragten Michaela Pries besprochen.

Frau Pries, vor vier Jahren wurden Sie Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen. Gehen Sie seitdem mit anderen Augen durch die Welt?
Ja, mein Blick ist noch einmal weiter und auch schärfer geworden für all das, was Menschen in ihrem Leben behindert. Ich habe Kontakt zu Menschen, die mit sehr unterschiedlichen Merkmalen leben und deren Herausforderungen ich immer besser verstehen kann. Das macht mich im Handeln entschlossener.
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Der diesjährige Protesttag am 5. Mai steht unter dem Motto „Neustart Inklusion“. Wie steht es denn um die Inklusion in Schleswig-Holstein?
Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem auf welchen Lebensbereich wir schauen. Positiv sind verschiedene Maßnahmen auf Landesebene. Beispielsweise der Fonds für Barrierefreiheit, das gemeinsame Projekt des Landes mit der Aktion Mensch zur Schaffung inklusiver Sozialräume, das Institut für Inklusive Bildung an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel oder die Gründung eines Medizinischen Behandlungszentrums für erwachsene Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen (MZEBkurz fürMedizinisches Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen) am Universitätsklinikum in Lübeck. In den Kommunen sind viele Aktionspläne und Initiativen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention entstanden. Und Verbände wie der Landessportverband und die Sportjugend setzen sich für Inklusion ein und verankern sie in ihren Konzepten. Positiv ist auch die zunehmende Mitwirkung der Selbstvertretungen.
Im Bereich der Kita und Schule haben wir noch keine zufriedenstellende Situation. Problematisch ist, dass wir angesichts einer steigenden Anzahl von Menschen mit Behinderungen, die sich auch aus der demografischen Entwicklung ergibt, immer weniger Personal für Assistenz, pädagogische Arbeit und Pflege zur Verfügung haben. Aus meiner Überzeugung könnten wir durch die Schaffung von Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen und Peer-Konzepte (= Angebote von Betroffenen für Betroffene) eine Entlastung schaffen. Letztlich ist das eine strukturelle Herausforderung, die wir gemeinsam und strategisch meistern müssen.
ZUR PERSON
Michaela Pries, staatlich anerkannte Erzieherin und Fachwirtin im Gesundheits- und Sozialwesen, wurde im Januar 2021 vom Landtag zur Beauftragten für Menschen mit Behinderungen gewählt. Davor arbeitete die 59-Jährige in der Stiftung Drachensee. Ehrenamtlich engagierte sie sich als Mitglied der CDUkurz fürChristlich Demokratische Union-Fraktion von 2003 bis 2018 in der Kieler Ratsversammlung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Außerdem war sie ehrenamtliche Richterin am Landessozialgericht. Als Landesbeauftragte setzt sie sich für eine umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
am gesellschaftlichen Leben ein und berät dazu den Landtag und die Landesregierung. Sie vertritt damit die Interessen von
mehr als 500.000 Menschen mit einer anerkannten Behinderung; davon gelten 57 Prozent als schwerbehindert. Nicht zu ihren Aufgaben gehört die Beteiligung an rechtlichen Verfahren. Pries ist auch Mitglied im VdK Nord.
Hierzulande waren 2024 insgesamt 4884 schwerbehinderte Menschen arbeitslos, ähnlich wie in den Jahren davor. Wie bewerten Sie diese Zahl?
Es ist festzustellen, dass die Entwicklung der Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen hinter der konjunkturellen Entwicklung zurückbleibt. Trotz eindeutiger Untersuchungsergebnisse zu den Vorteilen eines inklusiven Arbeitsmarktes für alle Beteiligten ändert sich wenig. Das hat unterschiedliche Gründe. In Unternehmen halten sich unter anderem hartnäckig Gerüchte zum Status schwerbehinderter Beschäftigter. Diese führen im Ergebnis dazu, dass man von einer Einstellung absieht. Die vielfältigen Unterstützungsangebote, die tatsächliche Rechtslage und vor allem aber der Gewinn einer meist gut qualifizierten und motivierten Person für das Unternehmen werden nicht erkannt. Dazu gehören gleichermaßen die Schwierigkeiten eines Erhalts von Arbeitsplätzen für Beschäftigte, die während ihres Arbeitslebens eine Behinderung erwerben. Das ist für alle Seiten keine gute Situation.
Noch zu viele Arztpraxen im Land sind nicht barrierefrei zugänglich, haben wir von Mitgliedern in einer Umfrage erfahren. Wo hapert es aus Ihrer Sicht bei der barrierefreien Gesundheitsversorgung?
Die Ergebnisse der Mitgliederumfrage des VdK Nord kann ich bestätigen. Viele Praxen in älteren Gebäuden sind nicht barrierefrei. Die Angaben zur Barrierefreiheit in den Praxen basieren zudem auf einer Selbstauskunft, sind also ungeprüft. Das ist ein Problem. Ich muss zumindest verbindliche Informationen zur Ausstattung erhalten. Und die Barrieren beginnen meist viel früher. Es geht ja nicht nur um bauliche Barrieren, sondern auch um Webseiten, Terminvergabe, Wege, Parkplätze, Assistenz beim Auskleiden, verständliche Informationen und so weiter. Die barrierefreie Zugänglichkeit zur Regelversorgung braucht zudem eine Ergänzung durch spezialisierte Angebote wie das MZEBkurz fürMedizinisches Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen in Lübeck und einen Ausbau der qualifizierten Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZkurz fürSozialpädiatrisches Zentrum). In Schleswig-Holstein versuche ich mit allen Verantwortlichen praktikable Lösungen zu finden, um die Situation zu verbessern.
Mit welchen Problemen wenden sich die Menschen besonders an Sie?
Bei uns melden sich Menschen zu all den angesprochenen Themenbereichen. Oft sind es umfängliche Einzelschicksale, bei denen wir zunächst einmal sortieren müssen: behördliche Entscheidungen zu Leistungen der Eingliederungshilfe, lange Wartezeiten bei der Feststellung einer Schwerbehinderung, fehlender barrierefreier Wohnraum, fehlende Wohnangebote für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, fehlende Barrierefreiheit und vieles mehr. Die Liste ist lang.
Wie kann man bei einem Anliegen mit Ihnen Kontakt aufnehmen?
Unser Büro befindet sich im Karolinenweg 1 in Kiel. Wir sind telefonisch unter Externer Link:(04 31) 9 88-16 20Externer Link:(04 31) 9 88-16 20 oder per E-Mail (Externer Link:lb@landtag.ltsh.de) erreichbar. Auf unserer Webseite Externer Link:www.inklusion.sh finden sich zudem ein Kontaktformular und die Kontaktmöglichkeit für gehörlose Menschen.
Sie haben noch einen Wunsch frei an die Landesregierung. Was müsste im Sinne der Menschen mit Behinderung unbedingt geändert werden?
Das ist mehr als ein Wunsch: Wichtig ist der Abbau von Bürokratie, das Erstellen verständlicher Dokumente und Formulare sowie eine verständliche Sprache in der Politik. All das sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass alle Bürger gleichberechtigt an demokratischen Prozessen teilhaben können.